Momentan sind ja fast alle Regeln bei uns zuhause aufgehoben. Es wird totaler Quatsch gemacht, es darf lange wach geblieben werden wie man will, es gibt halt hier und da mal ein Schoki mehr.
Lina will … Lina kriegt.
Sie hat ja auch in der letzten Zeit viele, sehr viele Geschenke von uns, aber auch von Familie und Freunden erhalten, wobei viele auch gleich dran gedacht und eine Kleinigkeit für Lilly miteingepackt haben. Danke hierfür.
Doch es bleibt halt einfach nicht aus und Lilly fühlt sich benachteiligt. Da können meine Frau und ich es versuchen wie wir wollen, aber Lilly verspürt Neid und versteht natürlich überhaupt nicht warum sich gerade so viel zuhause verändert, z.B. Mama und Papa sind nur noch am Wochenende zusammen zuhause oder warum steht plötzlich ein Krankenbett im Wohnzimmer.
Wir tun unser Bestes um dies zu kompensieren, doch Lina ist nunmal nicht mehr als Spielkamerad da oder fällt als Vorbild für Lilly weg.
Lina wurde durch die letzten Monate ja mehr und mehr erwachsen. Was sie medizinisch über sich ergehen lassen musste und noch muss, was sie psychisch und physisch einstecken muss … das prägt einen.
Diese Phase verändert nicht nur Lina, sondern auch uns als Eltern und natürlich auch Lilly.
Und wenn man es wirklich mal ganz sachlich, ohne jede Elternbrille sieht, dann stellt man fest das unser wohl größeres Problem Lilly sein wird.
Ich bitte alle Leser dies nicht falsch zu verstehen.
Es wird der Tag kommen, an welchem wir wohl wünschten er wäre nie gekommen. Linas Weg ist vorgegeben, aber was passiert mit Lilly danach?
Wie verkraftet es unsere bald 5-jährige Tochter Ihre Schwester sterben zu sehen? Wie bringen wir ihr es bei … zeitnah vor dem Ableben … so dass sie sich noch verabschieden kann? Was für Wunden wird das alles hinterlassen?
Wie können wir ihr den Halt geben, obwohl wir selber in ein Loch fallen werden?
Oder wird sie je wieder Vertrauen in ein wohl behütetes Elternhaus haben?
Wir konnten ja nicht auf Lina aufpassen, es verhindern oder an ihre Stelle treten. Haben wir in ihren Augen versagt?!?
Das sind so viele heikle und eklatent wichtige Fragen, welche mich unfassbar quälen und ich finde einfach keine adäquaten Antworten darauf.
In unseren Gesprächen mit der Familie und auch Psychologen, raten uns alle das wir Lilly auch mit an das Sterbebett nehmen sollen. Für mich ein absolutes NoGo Lilly dieser Situation auszusetzen, diesem wohl zwar wichtigen Part in ihrem Leben, aber diese Konfrontation will man seiner Tochter irgendwie nicht zumuten. Auch sollen wir sie zu Linas Beerdigung mitnehmen. Damit kann ich mich schon eher anfreunden, aber ich habe einfach Angst, dass sie nie mehr wieder mein heulendes Gesicht vergisst.
Aber die momentane Situation ist schon schwierig genug für Lilly.
Sie war schon immer die quirligere von beiden, aber manchmal denken wir sie hat ADHS. Sie kann nicht mehr still sitzen bleiben, sie macht viel mehr Quatsch und orientiert sich nicht mehr an unsere Erziehungsmuster. Wenn Sie mit Lina interagieren möchte, so ist das für Lina eher nervtötend und sie möchte das Lilly damit aufhört oder bestenfalls verschwindet. Das ist für Lilly dann natürlich wiederum traurig und deprimierend. Ihre erwachsen gewordene Schwester will sie nicht mehr.
Beide fordern von uns in solchen Momenten unglaubliches Feingefühl.
Um Lilly das Gefühl zu geben, sie ist ein gleichwertiges Familienmitglied und liegt uns genauso am Herzen wie Lina, versuchen wir, Lilly so gut es geht in die häusliche Situation miteinzubeziehen. Z.B. soll sie uns beim Tisch decken unterstützen oder auch beim Wäsche zusammenlegen oder auch nur Medikamente/ Utensilien für Lina bringen. Sie macht das teilweise schon sehr gut, aber im nächsten Moment ist sie ausser Rand und Band. Füße hoch, drehen, springen, toben, Babysprache oder irgendwelche Geräusche den ganzen Tag. Es raubt uns den letzten Nerv.
Kein Wunder das sie sich den Arm gebrochen hat …
Wir gehen mittlerweilen zum Psychologen mit ihr und versuchen darüber mehr zu erfahren wie sie die Situation wahr nimmt. Denn wenn wir sie darauf vorsichtig ansprechen, geht sie uns trotzdem immer aus dem Weg.
Mit ihrer Art ist es vermutlich der Hilfeschrei, den wir hören sollen.
“Schaut her, ich bin auch noch da. Ich brauche auch Liebe und Zuneigung.”
Ich versuche es daher so gut es geht Beiden gerecht zu werden. Lina darf mal mit mir spielen, dann darf Lilly das auch. Es wäre natürlich schöner zusammen zu spielen, denn wir wissen ja nicht wann es nicht mehr geht, doch auch so geht es irgendwie weiter.
Es ist schon extrem wichtig Lilly auf das Kommende vorzubereiten.
Langsam und vorsichtig, mit den passenden Worten und haltenden Händen.
Sie soll ihr ganzes Leben ja noch genießen, problemlos durch díe Schule kommen, sozial stabil bleiben, beruflich erfolgreich sein und irgendwann auch Kinder kriegen.
Doch niemals sollte sie Angst vor dem Leben haben, hervorgerufen durch diese schlimme Zeit und den Verlust ihrer Schwester.